Wie Österreich 1938 einen Monat lang heile Welt spielte

Donnerstag, 10. Februar 1938. Österreich tanzt zum letzten Mal. Aber der „Frontball“, der Ball der Einheitspartei Vaterländische Front, tanzt auf dem Vulkan. Ovationen für Kurt von Schuschnigg. Nur ganz wenige wissen, dass Adolf Hitler den Kanzler ausgerechnet für den vierten Jahrestag des blutigen 12. Februar 1934 zu sich bestellt hat.

Am 11. Februar berichten die Zeitungen über einen neuen „Angriff auf den Everest“, die Ablösung des Reichsaußenministers Neurath durch Joachim von Ribbentrop, die Forderung von General Franco, die Waffenlieferungen für die republikanische Regierung über die französische Grenze müssten aufhören, die Unterzeichnung der neuen Genfer Flüchtlingskonvention. Den meisten Raum widmen sie aber dem Ball der Vaterländischen Front. Der Bericht der Neuen Freien Presse nimmt eine Seite und eine Spalte ein, weit über eine halbe Seite füllt die Aufzählung der Anwesenden, eine ganze Spalte die Schilderung der Toiletten: „Frau Bundespräsident Miklas erschien in schwarzem, silberdurchwobenem Tüll mit Silberfuchscape, Fräulein Poldi Miklas in weißem Satinensemble, Frau Vizekanzler Hülgerth in schwarzem Ensemble aus Velourschiffon, Frau Minister Neumayer in weißsilberner Toilette“ und so weiter, eng gedruckt, endlos, kaum lesbar, bis zur Drohung, weitere Toilettenschilderungen würden folgen. Was sie am nächsten Tag taten: „Gertraud Hegedüs in weißem Satin, lachsrosa Orchidee“. Dies in einer Zeit schrecklichster Arbeitslosigkeit und massenhaften Hungerns.

Am folgenden Samstag treffen sich Finanzminister Rudolf Neumayer und noch einige Herren beim ehemaligen Staatssekretär Carl Karwinsky, einem Vertrauten Otto Habsburgs, zum Mittagessen, um über die finanziellen Ansprüche des Hauses Habsburg zu beraten. Sie wollen gerade Platz nehmen – da zieht der Chef des Bundespressedienstes Minister Ludwig seine Uhr und sagt: „Meine Herren, ich habe Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen. Zu der gleichen Stunde, da wir uns zu Tisch setzen, ist Schuschnigg bei Hitler. Die Nachricht war bisher streng geheim, aber nunmehr geht bereits das Kommuniqué darüber an die Abendblätter!“

Die völlig Überraschten bestürmen Ludwig mit Fragen. Dessen Auskunft spricht Bände darüber, in welchen Illusionen sich das offizielle Österreich wiegt: „Der Minister meinte, dass die Persönlichkeit Schuschniggs stark genug sein würde, um bei dieser Unterredung den Sieg über Hitler davonzutragen.“

Publik wurde die Episode acht Jahre später, am 28. Jänner 1946, durch Neumayer. Er stand in Wien vor Gericht, weil er als Mitglied des Kabinetts Seyß-Inquart den „Anschluss“ mitbeschlossen hatte und schrammte mit lebenslangem schwerem, verschärftem Kerker an der Todesstrafe vorbei. Viereinhalb Jahre später sah Österreichs Justiz in der Liquidierung Österreichs keinen strafbaren Tatbestand mehr.

„In den nächsten 48 Stunden,“ erzählte Neumayer, „war Kanzler Schuschnigg … mit der Umbildung seines Kabinetts nach dem Diktat vom Obersalzberg beschäftigt. Im ersten Ministerrat des neuen Kabinetts am 17. Februar um 2 Uhr früh sagte er zu uns: ,Sie wissen, dass ich mit Hitler gesprochen habe. Die Aussprache war hart, aber nicht ohne Erfolg. Es kommt jetzt der deutsche Friede. Ich habe daher meine Regierung umgebildet, um sämtliche aufbauwillige Kräfte darin zusammenzufassen.‘“ Die Nazis – aufbauwillige Kräfte? Was, abgesehen vom Kreis engster Vertrauter, nicht einmal Schuschniggs Minister erfuhren, erfuhr die auf die zensurierten Zeitungen angewiesene Bevölkerung schon gar nicht. Kein Wort über die schmähliche Behandlung Schuschniggs durch Hitler.

Doch bereits am Abend vor der Abreise des Bundeskanzlers hatte sich Schuschniggs Vertrauter Guido Zernatto mit dem Naziführer Arthur Seyß-Inquart über die „Heranziehung von Nationalsozialisten … für gewisse öffentliche Funktionen, aber nicht für Ministerposten“ geeinigt. Auch dies wurde zuerst gerichtskundig, dann zeitgeschichtlicher Stoff. Über Ministerposten redeten sie nur deshalb nicht, weil, so Seyß-Inquart am 10. Juni 1946 als Angeklagter im Nürnberger Prozess, er nicht gewusst habe, was Hitler von seinen Vorschlägen hielt. Vollends gespenstisch mutet an, dass Zernatto, der Todfeind der Nazis, der einen Monat später mit seiner Familie in letzter Minute das nackte Leben retten konnte, mit dem späteren „Anschluss-Bundeskanzler“ über den Wesensunterschied zwischen „österreichischer nationalsozialistischer Weltanschauung“ und „nationalsozialistischer Weltanschauung“ palaverte und dass sie dies auch noch schriftlich festhielten.

Mit der Rückkehr des Kanzlers aus Berchtesgaden begann ein Monat des Schweigens, Abwiegelns und der Wechselbäder zwischen Hoffnung und Angst. Ein Monat, in dem viele, die sich mit den Nazis angelegt hatten, vor allem aber Österreichs Juden, hätten fliehen können. Auch für viele Juden war die Emigration ganz und gar nicht jene Selbstverständlichkeit, als die sie im Rückblick erscheint. Manche machten sich ihren Reim darauf, dass Schuschnigg Seyß-Inquart zum Innenminister gemacht und ihm den Sicherheitsapparat ausgeliefert hatte und verließen das Land. Die größere Zahl wurde vom Einmarsch überrascht.

Eine offenere Informationspolitik hätte zumindest einen Teil von ihnen zur Erkenntnis gebracht, dass die Lage nicht zu retten war. Österreich hatte aber nicht nur eine zensurierte Presse, sondern auch eine zwischen Verteidigungswillen und Resignation schwankende Führung, die nicht wahr haben wollte, dass der Countdown zum Finis Austriae unaufhaltsam lief. So kam es, wie es gekommen ist, aber vor allem für viele Juden nicht unbedingt hätte kommen müssen.

Einer der nach wie vor schwer begreiflichen Faktoren in diesem Geschehen ist das Vertrauen, das Schuschnigg, trotz aller Gegensätze, den Nationalsozialisten im allgemeinen und ganz besonders Seyß-Inquart entgegenbrachte. Er vertraute ihm sogar seine geheime Marschroute für das Gespräch mit Hitler an – und wunderte sich allen Ernstes über den „Vertrauensbruch“.

Sein „deutscher Friede“ wackelt schon nach einer Woche. Hitler hält eine Drohrede, die auch vom österreichischen Rundfunk übertragen wird. Die Nazis jubeln. Hunderte Studenten singen am nächsten Tag auf der Rampe der Universität das „Horst-Wessel-Lied“ und ziehen über den Ring, an vielen Stellen wird demonstriert. Es kommt zu keinen Zusammenstößen mit der Polizei – kein Wunder, sie untersteht ja nun Seyß-Inquart. Auch bei einem Tanzfest in Jedlesee tauchen plötzlich Hakenkreuzbinden auf und das „Horst-Wessel-Lied“ wird bestellt. Noch ist die Nazipartei verboten, aber der diensthabende Polizist schreitet gegen den Musiker ein, der das Spielen verweigert: „Sie stören die Ruhe und Ordnung hier! Wenn Sie nicht sofort…“

Am 24. Februar hält Schuschnigg eine zweistündige, mitreißende Rede, die allen Mut gibt, die noch Hoffnung haben. Oder Illusionen. Sie wird zum vorletzten Aufbäumen vor der Katastrophe. Sie wiegt vor allem die Juden in falscher Sicherheit. Schauplatz der Großkundgebung ist das Parlamentsgebäude, das nun „Haus der Bundesgesetzgebung“ heißt und sehr bald „Gauhaus“ heißen wird. Keinen Monat lang gilt die Losung „Rot-Weiß-Rot bis in den Tod“, bis es dann am Ende heißt, kein Tropfen deutsches Blut dürfe vergossen werden. Während sich die Situation zuspitzt, spielen Zeitungen und Radio heile Welt, so gut sie können, so lange es geht.

Wenige Tage später fallen drei junge Nazis mitten unter den Sonntagsspaziergängern auf dem Bisamberg über die kleinen Kinder der Familie Weinberger her, die ebenfalls spazieren geht. Wie in einer geprobten Aktion warten sie, bis die vorauslaufenden Kinder auf ihrer Höhe sind, dann gibt der erste dem zweiten ein Zeichen, worauf dieser sein Fahrrad umwirft, über die Kinder herfällt, sie ohrfeigt, zu Boden wirft und und mit den Füßen auf sie eintritt. Bevor der Vater etwas tun kann, haben sich die drei auf ihre Räder geschwungen. Ein Passant kann den Letzten vom Rad reißen und gemeinsam mit dem Vater der Kinder festhalten. Kein Spaziergänger ist bereit, die Gendarmerie zu verständigen. Manche drücken sich verlegen vorbei, manche meinen, es sei eh nichts geschehen, einzelne grinsen schadenfroh. Die Szene gibt einen Vorgeschmack dessen, was sich wenig später überall in Wien abspielen wird.

Letztes Aufbäumen: Die berühmte Volksabstimmung. „Sie hatten,“ schreibt Chefredakteur Rudolf Kalmar, der mit Hilfe des in der Schreibstube tätigen Mithäftlings Viktor Matejka das KZ überlebt hat, im „Neuen Österreich“ vom 3. Februar 1946, „nicht einmal mehr die Kraft und den Mut, die viel zu spät in Szene gesetzte Volksabstimmung mit der einzigen Parole ,Für ein freies Österreich’ abzuhalten. Die Parole lautete vielmehr: ,Für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich.’ Das alles war so ungeheuer kompliziert, so krampfhaft und unnatürlich wie die Polgarschen Matrosen der österreichisch-ungarischen Kriegsmarine, die ,mit dem Ruf: ,Indivisibiliter ac inseparabiliter’ auf den Lippen in die Tiefen des Meeres versanken.’“

In Floridsdorf zerschlägt der einst stets zu einem philosophischen Gespräch aufgelegte jüdische Geschirrhändler Nathan Blitz seine gesamte Ware. Eliza, die Tochter des alten Trafikanten Ebenezer Brandweiner, sagt, der Vater sei zu alt zum Fliehen und sie würde bei ihm bleiben. Die Deutschen sind noch nicht in Österreich, aber das Floridsdorfer Teppichgeschäft Ezechiel Haas ist schon arisiert.

Altbundespräsident Wilhelm Miklas als Zeuge im Neumayer-Prozess: „Mussolini konnte telephonisch nicht erreicht werden. Es hieß, er sei nicht da. Er war aber da, nur nicht für uns.“ Dass er Hitlers Rückendeckung für seine Außenpolitik benötigte und Österreich fallen lassen würde wie eine heiße Kartoffel, hätte man sich in Wien längst ausrechnen können. Stundenlang hätten in jener Nacht Telephon und Fernschreiber „nach den westlichen Großmächten und ihren Hauptstädten und nach Italien gespielt“, so Miklas, aber Österreich sei verlassen gewesen „im Innern und verlassen von der ganzen Welt, auch von jenen Mächten, die uns immer Hilfe zugesagt haben. Überall waren wir verlassen worden.“ Wohl nicht zuletzt deshalb, weil der Hilferuf so plötzlich kam, und vor allem viel zu spät.

Auch die absurden Visionen, die 1938 in österreichischen Köpfen spukten, kamen in Miklas‘ Zeugenaussage erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg zur Sprache. Er habe, sagte er allen Ernstes, nicht nur an „eine halbe Souveränität Österreichs“ geglaubt, sondern an „die Möglichkeit eines Widerstandes im Deutschen Reich gegen das nationalsozialistische Terrorsystem. Wir hatten gute Nachrichten aus Bayern und die Möglichkeit, über Bayern hinaus eine Widerstandsfront zu bilden zur Wiederherstellung Deutschlands im Sinne des Heiligen Römischen Reiches.“

Der britische Journalist Georges Gedye schildert in seinem Buch „Fallen Bastions“, wie er am Tag nach Schuschniggs Abschiedsrede in einer startbereiten Maschine auf dem Flughafen Aspern nur in schreckerfüllt aufgerissene Augen sah, als er vergeblich einen hohen Dollarbetrag dafür bot, dass ihm jemand seinen Platz überließ. Die gestürmten Züge, die Chaosszenen auf den Bahnhöfen bezeugen, wie unvorbereitet Unzählige von der Okkupation überrascht wurden.

Tausende Juden und sonstige Gefährdete begriffen zu spät, was vorging. Ihr Schicksal erst gibt der Frage nach der Urteilsfähigkeit der damaligen österreichischen Führung (und den Folgen ihrer Informationspolitik) die volle Wucht.

Erstabdruck: Die Presse, 17.2.2018

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